Optimierung und Externalisierung
Gedanken zu Gunter Duecks «Heute schon einen Prozess optimiert»
Ich habe diesen Frühling Heute schon einen Prozess optimiert? von Gunter Dueck gelesen. Der Autor beschreibt in diesem Buch, wie in Deutschland (und im ähnlichen Stil wohl auch in anderen Ländern) derzeit Prozessoptimiertung überall das Gebot der Stunde ist. Historisch gesehen habe man das Wirtschaftswachstum seit dem zweiten Weltkrieg vor allem Prozessoptimierungen im zweiten Wirtschaftssektor (in der Industrie) zu verdanken. Die Autos, die wir heute fahren, unterscheiden sich nicht grundlegend von denjenigen, die vor 50 Jahren produziert worden sind. Ihre Herstellungsweise hat sich jedoch radikal verändert und läuft heute grösstenteils automatisch ab.
In der Industrie sind wir mittlerweile an die Grenzen der Optimierung und des Wachstums geraten. Grosses Wachstum gibt es nur noch im Dienstleistungssektor. Das Problem, das Dueck beschreibt, bezieht sich auf die Dienstleistungen. Denn hier wird genau nach dem gleichen Prinzip verfahren wie in der Industrie: Prozessoptimierung, was das Zeugs hält! Doch sind optimierte Dienstleistungen wirklich das, was sich der Kunde wünscht?
McDonald’s ist das Paradebeispiel für Prozessoptimierung in der Gastronomie. Ich esse sehr selten dort, und das praktisch nur, wenn es keine Alternativen gibt, und/oder wenn ich betrunken bin. Die Bedienung erfolgt hocheffizient. Dank der neuen Bestell- und Bezahlterminals muss man nicht einmal mehr lange an der Kasse anstehen und sich dort mit dem Personal unterhalten. Der Bestellprozess ist mittlerweile soweit durchoptimiert, wie es der Herstellungsprozess in der Küche schon längstens ist.
Doch möchte ich auch in einem «richtigen» Restaurant so bedient werden? Ich gehe gerne zwischendurch in der Mittagspause mit Bekannten ausgedehnt in einem Restaurant essen. Dort steht neben dem guten Essen auch die Unterhaltung im Mittelpunkt. So eine Mittagspause ist oft bereichernd und entspannend, quasi ein Kurzurlaub vor dem Nachmittag.
Merke ich jedoch, dass die Bedienung sichtlich gestresst ist, kann ich mich beim Restaurantbesuch kaum entspannen. Ich wähle und bestelle mein Essen sehr schnell und versuche, die Bedienung nicht unnötig lange aufzuhalten, denn ansonsten könnte das Ärger mit dem Vorgesetzten geben, was bloss für noch mehr Stress und schlechte Laune sorgt. Ein Mittagessen in einem Restaurant, das Prozessoptimierung betreibt, geht zwar schneller, ist aber kein sehr angenehmes Erlebnis. Man könnte auch gleich zu McDonald’s gehen.
Ein anderes Beispiel ist die Zustellung von Paketen. In den 90er-Jahren kam einmal täglich ein Postbote vorbei, der auf einem kleinen Anhänger Pakete mitführte. Für ein Dorf mit den weit ausserhalb gelegenen Bauernhöfen waren meistens ein oder zwei Postboten verantwortlich. Zu dieser Zeit gab es wesentlich weniger Pakete, jedoch mehr Briefe, Zeitungen, Zeitschriften usw.
Diese Postboten haben immer einen sehr entspannten Eindruck auf mich gemacht. Oft konnte ich beobachten, dass sich der Postbote nach der Brief- und Paketzustellung noch mit den Nachbarn unterhielt, bis er zum nächsten Haus weiterzog. Offensichtlich hatte man damals noch Zeit…
Heutzutage ist Effizienz angesagt. Der Paketbote rennt aus seinem Kastenwagen und will siene Ware möglichst schnell loswerden. Das ist auch nötig, denn seine Route wurde zuvor nach tayloristischen Methoden vermessen. Die Post weiss, wie lange der Bote für welche Anzahl Pakete maximal benötigen darf. Wird diese Zielvorgabe nicht eingehalten, hat der Bote mit negativen Konsequenzen zu rechnen.
Manche Paketzusteller, denn es gibt ja mittlerweile Konkurrenz zur Post, klingeln sich so oft bei einem Mehrfamilienhaus durch. Schliesslich muss die Sendung nicht unbedingt dem Empfänger übergeben, sondern nur in das Gebäude hineingebracht werden. Der Bote klingelt also bei allen Hausbewohnern, und unterbricht dabei möglicherweise eine Vielzahl von Personen bei ihrer Beschäftigung. In den letzten Monaten könnte das durchaus Büroarbeit (in meinem Fall Softwareentwicklung) gewesen sein, zumal viele Leute im Home-Office tätig sind. Wie schädlich solche Unterbrechungen sein können, weiss ich als Programmierer nur zu gut.
Ergebnis: Durch die Unterbrechungen sind die Leute weniger produktiv. Ihre Arbeitgeber verlieren Arbeitsleistung und damit Geld, müssen ihre Angestellten aber genau gleich entlöhnen. Der Paketzusteller spart hingegen einen Bruchteil seiner Personalkosten, da der Zustellungsprozess mittels Durchklingeln optimiert worden ist. Der Paketzusteller externalisiert seine Kosten ‒ das Umfeld hat diese zu bezahlen.
Diese Prozessoptimierung führt nicht nur zu schlechteren Dienstleistungen ‒ das Paket wurde unsanft beim Eingang abgeworfen, und nicht dem Empfänger überreicht ‒ sondern auch zu externalisierten Kosten. Denn der entstandene Schaden taucht nicht in der Bilanz des Paketzustellers auf, jedenfalls nicht sofort. (Und sollten die Versandhändler wegen schlechter Rückmeldungen der Logistikfirma ihre Aufträge entziehen, dürfte diese zum Ausgleich wiederum mit weiteren Prozessoptimierungen reagieren.)
Ich bin keinesfalls gegen die Automatisierung von mechanischen Abläufen, denn diese ist als Softwareentwickle mein täglich Brot, ja meine Existenzberechtigung. Es gibt Aufgaben, die der Computer schneller und präziser ausführen kann als ein Mensch. Die zwischenmenschlichen Interaktionen sollten jedoch nicht optimiert werden, denn diese machen oftmals die Qualität einer Dienstleistung aus. Solche Optimierungen führen oft bloss zu Frust auf beide Seiten ‒ und eben zu externalisierten Kosten, von denen wir sonst schon viele haben (Umweltverschmutzung, Lärmbelastung, Littering usw.)
Fazit: Wir sollten beim Optimieren von Prozessen nicht nur darauf achten, dass dabei die Dienstleistung und der zwischenmenschlicher Umgang nicht beeinträchtigt werden. Wir sollten auch darauf achten, dass wir unsere Einsparungen nicht unseren Mitmenschen als externalisierte Kosten aufbürden.