Weltverbesserung und Denkfaulheit

Oder: Das Elend beginnt im Geografieunterricht.

Explanations exist; they have existed for all time; there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong.

‒ H. L. Mencken

Im Geografieunterricht am Gynmasium kann ich mich an zwei Lehrer erinnern: Der erste war eher ein Haudegen; hatte ein enormes Wissen, versteckte dieses aber teilweise hinter seiner jovialen Art. Bei ihm im Unterricht haben wir angeschaut, was die Fakten sind. In New York herscht dieses und in den Tropen jenes Klima. Das eine Klima eignet sich gut für den Maisanbau, im anderen betreibt man besser extensive Viehzucht. Der Aralsee trocknet aus, weil die Abflüsse und die Verdunstung grösser sind als die Zuflüsse. Auf diese Weise wurden aber nicht nur Fakten gelernt, sondern auch Zusammenhänge, z.B. zwischen Baumwoll- und Fischereiindustrie in der Region: beide sind auf die gleiche Ressource angewiesen, nutzen sie aber mit einem unterschiedlichen Zeithorizont. (Die Akteure haben einen unterschiedlichen Buxton-Index.)

Der zweite Geografielehrer war jünger und hatte einen ganz anderen Unterrichtsstil. Der Frontalunterricht wechselte sich mit vielen Einschüben mit Gruppen- und Partnerarbeiten ab. Ich habe das immer gehasst, weil diese ständige Umkonfiguration des Schulzimmers für sehr viel Unruhe sorgte. Man war mehr mit Tischerücken und Organisation beschäftigt als mit der Sache an sich. Doch auch die Inhalte wurden anders vermittelt: Statt zu erfahren, was Sache ist, wurden Vorschläge erarbeitet, wie man etwas verbessern könnte.

Zum Beispiel: Der 37jährige Maniokbauer Otoktok Tschabobo aus Tschibuti hat Probleme seine Waren auf dem lokalen Markt abzusetzen, weil sie dort preislich nicht mit den in industrieller Landwirtschaft erzeugten Produkten mithalten können. Die industrielle Landwirtschaft wird subventioniert, und Herr Tschabobo erhält nichts davon. Nun war es an den Schülern, Lösungen auszuarbeiten. ‒ Die Probleme des Welthandels, die von den Mächtigen und Gutausgebildeten nicht gelöst werden können oder wollen, sollen also von 15jährigen Schülern gelöst werden: Manch einer (oder vielmehr: eine) scheint diesen Auftrag wohl etwas zu ernst zu nehmen.

Die Vorschläge lauteten immer ähnlich: Importzölle, Subventionen, Verbote, usw. Der Aralsee trocknet aus? Baumwollanbau verbieten, Subventionen für weniger wasserintensive Anbauprodukte sprechen, Gesetze gegen übermässige Wasserentnahme verabschieden, Swimming-Pools gleich ganz verbieten. Eine Ferienregion wird mit hässlichen Hotelkomplexen verschandelt? Strafsteuern für das nicht Wünschenswerte, Subventionen für das Wünschenswerte, Verbote, Infokampagnen, eine Kommission einsetzen ‒ so lauteten meistens die Lösungen.

Die Generation, die als erste in den zweifelhaften Genuss dieses Unterrichts kam, der nicht auf die persönliche Bildung, sondern auf die Weltverbesserung abzielte, gelangt nun langsam selber an die Schalthebel der Macht. So erinnern mich die politischen Nachrichten immer öfters an den Geografieunterricht von damals: Zu wenig Frauen im Verwaltungsrat (was auch immer das heissen möge)? Strafsteuern für Firmen mit «zu» tiefer Frauenquote, Subventionen für Firmen mit erfüllter Frauenquote. Diskrikimierungsverbote. Eine Kommission wird eingesetzt, die die Missstände untersuchen soll. Dann noch eine Infokampagne für mehr «Sichtbarkeit» und awareness, was auch immer das bedeuten möge. Ein verregneter Sommer? Elektromobilität subventionieren, Benziner abschaffen, Ölheizungen verbieten, Fleisch verteuern. Nicht gleich jetzt, aber vielleicht bis ins Jahr Zweitausendbisdannbinichnichtmehrinderverantwortung.

Es wird auf naivste Art in komplexe Systeme eingegriffen. Und mit «komplex» meine ich nicht einfach «kompliziert», «vielschichtig» oder «gross». Ein System ist komplex, wenn in diesem nicht-lineare Rückkoppelungseffekte (non-linear feedback loops) auftreten, also selbstverstärkende Effekte. Solche naiven Interventionen können ebenfalls zu solchen Effekten führen, nur dummerweise oft nicht zu den gewünschten, sondern zu teils noch viel schlimmeren und ungewünschten.

Beispiel Elektroauto: Der süffisante CTO lobt sich gerade vor versammelter Meute seiner Unterlinge: Er sei heute mit dem Tesla zur Arbeit gefahren, denn ihm sei es wichtig, dass seine Kinder in einer Welt aufwachsen, in der alle Menschen genug Ressourcen zum Leben haben. (Ich Umweltsünder habe keinen Tesla und keine Kinder und bin zu Fuss zur Arbeit gekommen.) Elektroautos sollen ja schliesslich den Klimawandel stoppen ‒ oder gar rückgängig machen? Man verbrennt ja schliesslich kein Benzin mehr. Und der Strom kommt ja von der Sonne, denn der CTO hat ja schliesslich auch Solarpanels auf seinem Einfamilienhaus, womit er die Welt mit jedem Sonnenstrahl aufs Neue rettet. (Ich Umweltsünder habe keine Solarpanels, da meine Zweizimmermietwohnung gar kein eigenes Dach hat. Stattdessen ziehe ich bewässerungsintensive Petersilie auf meinem Balkon!)

Doch woher kommt die Batterie für den Tesla? Wie viel Energie braucht die Herstellung des leichten Karbons für die Karosserie, womit das hohe Gewicht der Batterie ausgeglichen werden soll? Und woher kommt der Strom tatsächlich? Nein, lieber CTO, wenn du deinen Tesla nachts an dein Hausnetz anschliesst, ist es nicht die Sonne, die deine Elektroautobatterien lädt. (Bedeutet «CTO» eigentlich Compulsive Tesla Owner?)

Dennoch: Elektroautos gehören gefördert, Benziner verboten! In der Stadt soll es kostenlose e-Scooter geben, die dann nachts mit dieselbetriebenen Lieferwagen eingesammelt werden müssen. Die Geografieklasse von 2001 macht ja jetzt schliesslich die Gesetze, und die haben ja schliesslich ihr ganzes Schulleben lang gelernt, wie man die Probleme dieser Welt löst. Der Geografielehrer hat die Lösungen damals schliesslich für gut befunden, und der muss es ja wissen, beschäftigte er sich doch sein ganzes Berufsleben lang mit der Weltverbesserung und der Unterweisung darin.

Was haben solche gut gemeinten «Lösungen» nun für unerwünschte nicht-lineare Effekte? Diese sind oft nicht so einfach vorherzusagen und äussern sich erst nach vielen Jahren, wenn ein entsprechender und oft irreversibler Schaden schon angerichtet ist. Von der Gewinnung der Rohstoffe, die für Elektroauto-Batterien benötigt werden, lässt sich jetzt schon nichts Gutes vernehmen. Dass neben dem bestehenden Tankstellennetz noch eine Ladeinfrastruktur für Elektroautos errichtet werden muss, ist ein weiterer sekundärer Effekt. Die Probleme mit fehlenden Parkplätzen und verstopften Strassen werden durch Elektroautos jedenfalls nicht gelöst.

Das übergeordnete Problem ‒ der Individualverkehr, ja die Idee des beruflichen Pendelns überhaupt ‒ wird dabei nicht betrachtet. Zu sehr ist man auf konkrete Technologien fokussiert. Mit Technologie lässt sich schliesslich auch Geld verdienen.

Und was könnte man stattdessen tun, also jetzt angefangen im Geografieunterricht?

Statt sich gleich auf Lösungen zu stürzen, könnte man sich zunächst einmal eingängiger mit den Problemen befassen. Systemdenken ist das Stichwort. Welche Rückkoppelungseffekte existieren in einem bestehenden System? Wie wirken sich Interventionen auf diese Rückkoppelungseffekte aus? Wird dadurch der bestehende Effekt geschwächt, oder unwillentlich sogar noch verstärkt? Welche unerwünschten sekundären Effekte kann eine Intervention zur Folge haben?

Wenn beispielsweise angekündigt wird, dass die Wasserentnahme für den Aralsee ab nächstem Jahr streng limitiert wird, dürfte das genau das Gegenteil der erwünschten Wirkung zur Folge haben: Vor lauter Torschlusspanik wird nun noch mehr Wasser entnommen, das dann versucht wird zu horten. Man hat genau das Gegenteil des erwünschten Effekts erreicht.

Wenn Diesel- und Benzinautos ab Jahr X nicht mehr zugelassen werden, dürfte deren Absatz nur noch steigen und schliesslich im Jahr X-1 einen (vorerst) letzten Höhepunkt erreichen. Die Auftragsbücher sind übervoll, die Nachfrage nach entsprechenden Bauteilen bei den Zulieferern steigt noch einige Zeit an, sodass diese ihre Kapazitäten ausbauen und sich mit Rohstoffen eindecken. Tritt schliesslich das Jahr X ein, fällt die ganze Nachfrage in sich zusammen. (Wir haben es hier mit langen Lieferketten und also wiederum mit komplexen Systemen zu tun: Der Hersteller von Kupferkabeln weiss wohl am Ende gar nicht, ob seine Erzeugnisse dereinst in Autos mit Verbrennungs- oder Elektromotoren landen sollen.) Die Hersteller weiter hinten in der Lieferkette sitzen nun auf ihren Lager- und Rohstoffbeständen fest und wissen nicht, was sie mit den ganzen ausgebauten Kapazitäten anfangen sollen. Der Markt ist nun für einige Jahre ausgetrocknet.

Es folgt die naive Gegenintervention: Die Gesetzesänderung wird einfach wieder rückgängig gemacht, sodass die Maschinerie weiterhin am Laufen bleibt und im Leerlauf dreht. Oder aber die ganze Wertschöpfungskette wird mit Subventionen und Ausgleichszahlungen eingedeckt, da die ganzen Probleme ja auf eine Gesetzesänderung einer früheren Regierung zurückzuführen sind, von der die Nachfolgeadministration schliesslich wenig hält.

Man soll sich also nicht fragen, welche positiven Auswirkungen eine Intervention haben könnte, sondern welche negativen. Vor allem sollte man aber betrachten, ob diese negativen Folgen überschaubar sind und in Proportion zu den erwünschten positiven Effekten stehen, oder aber ob man die Möglichkeit für selbstverstärkende (unerwünschte) Rückkoplungseffekte erkennen kann. Eine Intervention ist also nicht anhand ihres potentiellen Nutzens zu bewerten, sondern anhand ihres möglichen Schadens.

Führt man dieses Vorgehen nun in den Schulunterricht zurück, sollten weniger vorgefertigte und allen bereits bekannte Lösungen diskutiert werden. Stattdessen soll die Vorstellungskraft traniert werden, indem man die möglichen Auswirkungen einer Intervention auf ein System durchzudenken versucht. Das ist intellektuell fordernder und verlangt das Erkennen von Zusammenhängen. Das Wiederkäuen von bereits bekannten Lösungen, wie man sie etwa aus der Tagespresse vernimmt, ist natürlich weniger anstrengend. Zudem wähnt man sich mit den zitierfähigen Expertenmeinungen aus den Massenmedien argumentativ auf der sicheren Seite; hierzu muss man deren Argumente nicht einmal verstehen können, man braucht sie nur nachzuplappern. (Der Vorwurf, dass einer nicht an die Wissenschaft glaube bzw. ihr nicht vertraue, ist hier besonders entlarvend.)

Nur wer bereit ist, diese Bequemlichkeit zu opfern, und sich stattdessen im problemorientierten Denken zu üben, kann schliesslich langfristige und tragbare Lösungen finden, die sich nicht später bloss als zusätzliche Folgeprobleme äussern.